* 42 *
»Fangt Sie! Ich möchte, dass sie gefasst werden!«, dröhnte DomDaniels wütendes Bellen durch den Nebel.
Jenna und Junge 412 paddelten mit der Muriel zwei so schnell sie konnten in Richtung Deppen Ditch, und Nicko folgte im Kanu des Jägers, von dem er sich nicht mehr trennen wollte.
Der nächste Befehl DomDaniels machte sie hellhörig. »Schickt die Schwimmer los. Sofort!«
Vorübergehend ließ das Geschrei, das von der Vergeltung zu ihnen drang, etwas nach. Die beiden einzigen Matrosen an Bord, die schwimmen konnten, wurden übers Deck gejagt und schließlich gefangen. Dann klatschte es zweimal laut. Sie waren über Bord geworfen worden, um die Verfolgung aufzunehmen.
Die Flüchtigen in den Kanus paddelten den rettenden Marram-Marschen entgegen, ohne sich um das Japsen im Wasser weit hinter ihnen zu kümmern. Von dem Sturz aus großer Höhe noch halb betäubt, schwammen die beiden Schwimmer im Kreis und mussten am eigenen Leib erfahren, dass die alte Seefahrerweisheit stimmte: Einem Seemann brachte es tatsächlich nur Unglück, wenn er schwimmen konnte.
An Deck der Vergeltung kehrte DomDaniel zu seinem Thron zurück. Die Matrosen waren durch die Luke verschwunden, nachdem sie ihre beiden Kameraden hatten über Bord werfen müssen, und so hatte DomDaniel das Deck wieder ganz für sich. Eine tiefe Kälte umgab ihn, als er sich, auf dem Thron sitzend, in seine schwarze Magie versenkte und eine lange und komplizierte Umkehrzauberformel herunterleierte.
DomDaniel rief die Gezeiten an.
Die auflaufende Flut gehorchte ihm. Sie sammelte sich draußen auf See und wälzte sich schäumend an Port vorbei den Fluss herauf. Was der Strömung nicht widerstand, wurde mitgerissen: Delfine und Quallen, Schildkröten und Seehunde. Das Wasser stieg. Immer höher und höher stieg es, und die Kanus kämpften sich mühsam über den wogenden Fluss. An der Einfahrt zum Deppen Ditch wurde das Steuern noch schwieriger. Die Strömung wurde immer stärker, und die Fluten füllten rasch den Kanal.
»Es wird zu gefährlich«, schrie Jenna gegen das Tosen des Wassers an und stach das Paddel in einen weiteren Strudel, der die Muriel zwei hin und her warf. Die Flut erfasste die Kanus und spülte sie mit halsbrecherischem Tempo in den Kanal. Hilflos schaukelten sie auf den Wellen. Wie Treibgut wurden sie fortgerissen, und Nicko sah, dass das Wasser bereits den oberen Rand des Kanals erreicht hatte. So etwas hatte er noch nie erlebt.
»Hier stimmt was nicht«, schrie er nach hinten zu Jenna. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu.«
»Er steckt dahinter!«, rief Junge 412 und deutete mit dem Paddel in Richtung DomDaniel. Er bereute es schon in der nächsten Sekunde, denn die Muriel zwei geriet so heftig ins Schlingern, dass sich ihm beinahe der Magen umdrehte. »Horcht!«
DomDaniel hatte seine Befehle geändert, als die Vergeltung sich im Wasser zu heben begann und an ihrer Ankerkette zerrte. »Blase, blase, blase!«, brüllte er jetzt. »Blase, blase, blase!«
Der Wind wurde stärker und tat, wie ihm befohlen. Unter lautem Heulen wühlte er das Wasser auf und warf die Kanus heftig von einer Seite auf die andere. Er blies den Nebel fort, sodass Jenna, Nicko und Junge 412, die im randvollen Deppen Ditch wie in einem Ausguck saßen, die Vergeltung deutlich sehen konnten.
Und an Bord der Vergeltung konnte man sie sehen.
Im Bug des Schiffes griff DomDaniel zum Fernrohr und suchte, bis er entdeckte, wonach er suchte.
Kanus.
Er musterte die Insassen und sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Das Mädchen mit den langen dunklen Haaren und dem goldenen Diadem, das vorn in dem merkwürdigen grünen Kanu saß, war nicht zu verwechseln. Es war das Königsbalg. Das Königsbalg war auf seinem Schiff gewesen! Hier, direkt vor seiner Nase, und er hatte sie entwischen lassen.
DomDaniel wurde seltsam still, dann nahm er seine ganze Kraft zusammen und beschwor den mächtigsten Sturm herauf, den er heraufbeschwören konnte.
Die schwarze Magie verwandelte das Heulen des Windes in ein ohrenbetäubendes Kreischen. Schwarze Gewitterwolken zogen auf und türmten sich über der kargen Fläche der Marram-Marschen. Das Licht des Spätnachmittags wurde trüb, und kalte schwarze Brecher brandeten gegen die Kanus.
»Wasser kommt über, ich bin klatschnass«, rief Jenna. Sie versuchte, die Muriel zwei zu steuern, während Junge 412 verzweifelt das eingedrungene Wasser ausschöpfte. Im Kanu des Jägers bekam Nicko Probleme – eine Welle schlug über ihm zusammen und setzte das Boot unter Wasser. Noch so eine Welle, dachte er, und ich finde mich auf dem Grund des Deppen Ditch wieder.
Und dann war plötzlich kein Deppen Ditch mehr da.
Unter lautem Getöse gab das Ufer des Kanals nach. Eine gewaltige Welle schoss durch die Bresche, donnerte über die Marram-Marschen und riss alles mit sich fort: Delfine, Schildkröten, Quallen, Seehunde, Schwimmer ... und zwei Kanus.
Nicko jagte in einem Tempo dahin, das er im Traum nicht für möglich gehalten hätte. Es war beängstigend und aufregend zugleich. Doch das Kanu des Jägers ritt so mühelos auf dem Kamm der Welle, als habe es nur auf diesen Augenblick gewartet.
Jenna und Junge 412 waren über die Wendung der Ereignisse längst nicht so begeistert wie Nicko. Die Muriel zwei war ein störrisches altes Kanu und für diese neue Art zu reisen nicht zu haben. Nur mit größter Mühe konnten sie verhindern, dass sie von der Welle, die über die Marschen toste, zum Kentern gebracht wurde.
Die Welle erlahmte etwas, als das Wasser sich über die Marschen verteilte, und die Muriel zwei ließ sich wieder leichter steuern.
Nicko manövrierte das Kanu des Jägers geschickt an der Welle entlang auf sie zu.
»Das ist das absolut Größte!«, rief er, das Tosen des Wassers übertönend.
»Du spinnst wohl!«, rief Jenna, die noch immer alle Hände voll zu tun hatte, um ein Kentern zu verhindern.
Die Welle wurde nun deutlich schwächer und langsamer und verlor den größten Teil ihrer Kraft. Das Wasser strömte in den Weiten der Marschen und füllte Gräben und Sümpfe. Bald war die Welle ganz verschwunden, und Jenna, Nicko und Junge 412 trieben auf einem offenen Meer, das bis zum Horizont reichte und das vereinzelte kleine Inseln sprenkelten.
Die Nacht brach an, als sie in die Richtung paddelten, in der sie die Hütte vermuteten. Über ihnen türmten sich dunkle Gewitterwolken. Die Temperatur sank beträchtlich, und die Luft lud sich elektrisch auf. Bald rollte warnend ein erster Donner über den Himmel, und große Regentropfen fielen. Jenna blickte über das graue Wasser und fragte sich, wie sie nach Hause finden sollten.
In der Ferne, auf einer der Inseln, die am weitesten weg waren, sah Junge 412 einen flackernden Lichtschein. Tante Zelda entzündete ihre Sturmkerzen und stellte sie in die Fenster.
Die Kanus nahmen Geschwindigkeit auf und hielten auf das Licht zu, als der nächste Donner grollte und ein Wetterleuchten den Himmel erhellte.
Tante Zeldas Tür stand offen. Sie erwartete sie.
Sie machten die Kanus am Schuhabkratzer neben der Vordertür fest und gingen hinein. In der Hütte war es merkwürdig still. Tante Zelda war in der Küche beim Boggart.
»Wir sind wieder da!«, rief Jenna.
Tante Zelda kam aus der Küche und schloss leise die Tür hinter sich. »Habt ihr ihn gefunden?«, fragte sie.
»Gefunden? Wen denn?«
»Na, den Lehrling. Septimus.«
»Ach so, den.« Seit ihrem Aufbruch am Morgen war so viel geschehen, dass Jenna ganz vergessen hatte, warum sie eigentlich losgefahren waren.
»Gott sei Dank«, sagte Tante Zelda, »ihr habt es noch geschafft. Es wird schon dunkel.« Sie eilte zur Tür, um sie zu schließen.
»Ja, es ist...«
»Hilfe!«, schrie Tante Zelda, als sie das Wasser sah, das über ihre Türschwelle schwappte. Und die beiden Kanus, die draußen schaukelten.
»Alles ist überflutet! Die Tiere! Sie ertrinken.«
»Es geht ihnen gut«, versicherte ihr Jenna. »Die Hühner hocken alle oben auf dem Hühnerboot – wir haben sie gezählt. Und die Ziege ist aufs Dach geklettert.«
»Aufs Dach?«
»Ja, wir haben sie gesehen. Sie frisst das Dachstroh.«
»Oh. Oh, schön.«
»Die Enten sind wohlauf, und die Kaninchen, na ja, ich glaube, ich habe sie herumschwimmen sehen.«
»Herumschwimmen?«, rief Tante Zelda. »Kaninchen schwimmen nicht herum.«
»Die aber schon. Ich bin an einigen vorbeigekommen, die sich einfach auf dem Rücken treiben lassen. Als würden sie ein Sonnenbad nehmen.«
»Ein Sonnenbad?«, kreischte Tante Zelda. »In der Nacht?«
»Tante Zelda«, sagte Jenna streng, »vergiss die Kaninchen. Ein Unwetter zieht herauf.«
Tante Zelda beruhigte sich und musterte die drei durchnässten Gestalten. »Entschuldigt. Wo bin ich denn nur mit meinen Gedanken? Kommt, trocknet eure Sachen am Kamin.«
Als Jenna, Nicko und Junge 412 dampfend am Kamin standen, spähte Tante Zelda wieder hinaus in die Nacht. Dann schloss sie leise die Haustür.
»Da draußen sind dunkle Kräfte am Werk«, raunte sie. »Ich hätte es merken müssen, aber Boggart ging es schlecht, sehr schlecht ... und dann die Vorstellung, dass ihr da draußen seid ... ganz auf euch allein gestellt.« Tante Zelda erschauderte.
»Das war DomDaniel«, erklärte ihr Jenna. »Er ist ...«
»Was ist er?«
»Furchtbar«, antwortete Jenna. »Wir haben ihn gesehen. Auf seinem Schiff.«
»Ihr habt was?«, rief Tante Zelda und sperrte den Mund auf. Sie traute ihren Ohren nicht. »Ihr habt DomDaniel gesehen? Auf der Vergeltung? Wo?«
»Am Deppen Ditch. Wir sind einfach raufgeklettert und ...«
»Wo raufgeklettert?«
»Na, die Strickleiter. Wir sind auf das Schiff ...«
»Ihr ... ihr wart auf der Vergeltung?« Tante Zelda konnte es nicht fassen. Jenna bemerkte, dass ihre Tante erbleicht war und ihre Hände leicht zitterten.
»Kein gutes Schiff«, sagte Nicko. »Riecht schlecht und macht überhaupt einen schlechten Eindruck.«
»Du warst auch dabei?«
»Nein«, antwortete Nicko, der er es jetzt bereute, dass er nicht mitgegangen war. »Ich wollte, aber mein Unsichtbarkeitszauber war nicht gut genug, darum bin ich unten geblieben. Bei den Kanus.«
Tante Zelda brauchte ein paar Sekunden, um das alles zu verarbeiten. Sie sah Junge 412 an.
»Also, du und Jenna, ihr wart auf dem Schiff dieses Schwarzkünstlers ... ganz allein ... zwischen all dieser schwarzen Magie. Wozu denn?«
»Na ja, wir haben Alther getroffen, und ...«, versuchte Jenna zu erklären.
»Alther?«
»Ja, und er hat uns gesagt, dass Marcia ...«
»Marcia? Was hat denn Marcia damit zu tun?«
»Sie ist doch von DomDaniel gefangen genommen worden«, sagte Junge 412. »Und Alther meinte, sie sei vielleicht auf dem Schiff. Er hatte Recht. Wir haben sie gesehen.«
»Du liebe Zeit. Das wird ja immer schlimmer.« Tante Zelda sank in den Sessel vor dem Kamin. »Was ist nur in diesen alten Plagegeist gefahren?«, schimpfte sie. »Kinder auf das Schiff dieses Schwarzkünstlers zu schicken! Was hat er sich nur dabei gedacht?«
»Er hat uns nicht geschickt, ehrlich«, sagte Junge 412. »Er hat uns sogar davor gewarnt, aber wir mussten versuchen, Marcia zu retten. Leider ist es uns nicht gelungen ...«
»Marcia gefangen«, sagte Tante Zelda leise. »Was für ein Unglück.« Sie stocherte mit einem Schürhaken im Feuer, und Flammen loderten empor.
Ein lauter, lang anhaltender Donner grollte über der Hütte und erschütterte sie in ihren Grundfesten. Ein kräftiger Windstoß drückte zu den Fenstern herein und blies die Sturmkerzen aus, sodass nur noch das flackernde Kaminfeuer den Raum erhellte. Im nächsten Augenblick prasselten Hagelkörner gegen die Scheiben und durch den Schornstein in den Kamin. Das Feuer erlosch mit einem zornigen Zischen.
In der Hütte wurde es dunkel.
»Die Laternen!«, rief Tante Zelda, sprang auf und tastete sich zum Laternenschrank.
Maxie winselte, und Berta steckte den Kopf unter ihren unversehrten Flügel.
»Verflixt, wo habe ich denn nur den Schlüssel?«, murmelte Tante Zelda und wühlte in ihren Taschen, fand ihn aber nicht. »Verflixt und zugenäht.«
Es knallte.
Ein Blitzstrahl zuckte vor dem Fenster, beleuchtete die Umgebung und fuhr dicht neben der Hütte ins Wasser.
»Das war knapp«, sagte Tante Zelda grimmig.
Maxie kroch jaulend unter den Teppich.
Nicko spähte aus dem Fenster. Im grellen Schein des Blitzes hatte er etwas gesehen, was er eigentlich nie wieder sehen wollte.
»Er kommt«, sagte er ruhig. »Ich habe das Schiff gesehen. In der Ferne. Es segelt über die Marschen. Er kommt hierher.«
Alle drängten ans Fenster. Zunächst sahen sie nur das Dunkel des aufziehenden Unwetters, doch während sie noch in die Nacht hinausstarrten, huschte ein zuckender Blitz über den Himmel und enthüllte ihnen, was Nicko zuvor gesehen hatte.
Eine Silhouette vor dem erhellten Himmel. Noch weit entfernt, die Segel jedoch gebläht im heulenden Wind, schnitt das schwarze Schiff durch die Wellen und hielt auf die Hütte zu.
Die Vergeltung nahte.